T. Rietmann: Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern

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Titel
Liederlich» und arbeitsscheu. Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884–1981)


Autor(en)
Rietmann, Tanja
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gianna Virginia Weber

Mit Tanja Rietmanns Dissertation erscheint ein wertvoller Beitrag zur politisch höchst aktuellen, bisher jedoch, gerade im Hinblick auf die administrative Anstaltsversorgung von Erwachsenen, erst punktuell erforschten Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Als Pionierleistung zu erwähnen gilt es insbesondere die Dissertation von Sabine Lippuner für den Kanton Thurgau. 1 Rietmanns darauf aufbauende Untersuchung ist nicht zuletzt deshalb interessant, da eine der zentralen Herausforderungen in diesem Forschungsfeld in den z. T. erheblichen Unterschieden im föderalistisch organisierten Fürsorgesystem liegt. Bei der genannten Versorgungsform handelt es sich um ein repressives, armenpolitisches Instrument, welches mit Ausnahme von Genf in sämtlichen Kantonen bis weit ins 20. Jahrhundert als probate Fürsorgepraktik galt.

Ausgehend vom titelgebenden Versorgungsgrund der «Liederlichkeit» und «Arbeitsscheue» geht Rietmann mit Hilfe des labeling approach der Frage nach, wie die politischen bzw. rechtshistorischen Debatten sowie die Praxis der administrativen Anstaltsversorgung im Kanton Bern ausgestaltet worden sind. Die Arbeit basiert im Wesentlichen auf einer beachtenswert elaborierten Rekonstruktion der Genese und Weiterentwicklung der kantonalen Versorgungsgesetze. Die Autorin zeigt dabei unterschiedliche historische Argumentationsstrategien auf, mit denen durchaus bewusste Verstösse gegen bestehende, verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechte, wie das Erfordernis unabhängiger Gerichtsinstanzen oder das Recht auf ein Beschwerdeverfahren, legitimiert worden sind. So verwirkten gemäss dem damaligen Staatsbürgerverständnis insbesondere jene MitbürgerInnen, welche sich zumeist geschlechtsspezifisch geprägten Normverstössen (u.a. ausserehelicher Geschlechtsverkehr bei Frauen, drohende Arbeitslosigkeit bei Männern) «schuldig» machten, ihr Recht auf Freiheit und wurden stattdessen zur «Nacherziehung » in Zwangsarbeitsanstalten eingewiesen. Zwar bedurfte eine Versorgung keines Straftatbestands, sie erfolgte jedoch im Sinne einer pädagogisch ausgerichteten, «präventiven» Kriminalitätsbekämpfung.

Aufgrund des weiten Spektrums solcher «sozialer Abweichungen» erwiesen sich, wie Rietmann überzeugend darlegt, die vagen Zuschreibungen «liederlich» und «arbeitsscheu» durch deren «paraphrastische Kapazitäten» (S. 45, nach Lippuner) als praktikable Versorgungsgrundlagen und vermochten es daher auch, sich nachhaltig sowohl im fürsorgerischen Diskurs als auch über mehrere Gesetzesrevisionen hinweg zu erhalten. Weniger fundiert bleibt hingegen die von der Verfasserin angestrebte Darlegung des sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes der Berner BefürworterInnen dieser Praxis. Ihre These, wonach die bürgerliche Oberschicht mittels ihrer überdauernden, politischen Vormachtstellung über fast ein ganzes Jahrhundert hinweg danach getrachtet habe, die Unterschicht zu normalisieren, konnte daher nicht differenzierter begründet werden.

Wie Rietmann in Kapitel 2 und 3 aufzeigt, verfügten die Berner Versorgungsanstalten über eigene Landwirtschafts- und Dienstleistungsbetriebe, in welchen sowohl für administrativ Versorgte als auch die teilweise vorhandenen Strafgefangenen ein hartes Arbeitsregime bei äusserst kargen Unterbringungsbedingungen herrschte. Der eigentliche Vollzug der Anstaltsversorgung wurde zwar ab 1913 mit «milderen» Varianten flankiert, so etwa mit einer bedingten Versorgung unter Schutzaufsicht oder einer frühzeitigen Anstaltsentlassung mit anschliessender Probezeit. Beide Massnahmen erfolgten jedoch unter steter Internierungsandrohung bei Nichteinhaltung amtlicher Weisungen.

In Kapitel 4 und 5 präsentiert die Autorin zwei Fallgeschichten, anhand welcher sie nicht nur das eingespielte institutionelle Gefüge, sondern auch die erheblichen individuellen Ermessensspielräume einzelner Akteure in der Praxis illustriert. Parallel dazu wird der nachweisbare, jedoch beschränkte Handlungsspielraum der Betroffenen aufgezeigt. So wurden Widerstandsformen, wie die zahlreichen Bittschriften oder die Missachtung behördlicher Anweisungen, einer Betroffenen als Beleg der Uneinsichtigkeit und somit der fehlgeschlagenen «Besserung» ausgelegt, was sogar zu einer Verschärfung ihrer Behandlung führte. Eine nachhaltige Verhaltensänderung wurde mit den angewandten Massnahmen in beiden Beispielen nicht erzielt. Die Auswahl dieser beiden Dossiers erfolgte geschickt, zu deren Einordnung wäre indes eine Auswertung weiterer Fallakten wünschenswert gewesen.

Kapitel 6 behandelt historische Reformpostulate, wobei u.a. Carl Albert Looslis polemische Kritik an der administrativen Anstaltsversorgung dokumentiert wird. Entsprechende Einwände sorgten zwar bereits Ende der 1930er Jahre auch in Fachkreisen für Gesprächsstoff, führten allerdings nicht zu konkreten Änderungen. In Kapitel 7 konstatiert Rietmann zunächst, dass die Forderung nach mehr Professionalisierung und Verwissenschaftlichung sowie nach einem weniger autoritären Fürsorgeverständnis, wie es das in Fachzeitschriften hochgehaltene Konzept des social casework versprach, in den 1960er Jahren nur inkonsequent durchgesetzt worden ist.

Zu Recht ermahnt sie weiter davor, «von programmatischen Aussagen nicht automatisch auf deren praktische Umsetzung» (S. 260) zu schliessen. Daher vermag der von der Autorin im selben Zeitraum verortete «Paradigmenwechsel innerhalb der Fürsorge und Sozialarbeit» (S. 256) nicht zu überzeugen. Dies insbesondere aufgrund der in Kapitel 8 erfolgten Ausführungen, dass die eigentliche Abschaffung der administrativen Versorgung aufgrund von «Liederlichkeit» erst als späte Folge der schweizerischen Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention (1974) umgesetzt worden ist. Insgesamt verschafft Rietmann mit ihrer klar formulierten Untersuchung fundierte Einblicke in die juristische und politische Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der kantonalen Gesetzgebung zur administrativen Anstaltsversorgung. Darüber hinaus bietet ihre Arbeit neues Grundlagenwissen zur konkreten Ausgestaltung dieser Fürsorgepraktik im Kanton Bern, sowohl vonseiten der öffentlich-rechtlichen Behörden als auch jener einiger bereits verschiedenen Betroffenen.

1 Sabine Lippuner, Bessern und Verwahren. Die Praxis der administrativen Versorgung von «Liederlichen» und «Arbeitsscheuen» in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain (19. und frühes 20. Jahrhundert), Frauenfeld 2005.

Zitierweise:
Gianna Virginia Weber: Rezension zu: Tanja Rietmann, «Liederlich» und «arbeitsscheu». Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884–1981), Zürich: Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 341-343.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 341-343.

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